Uta Boockhoff-Gries im Gespräch mit David Kasparek und Elina Potratz

Es geht nur mit Kommunikation

Dipl.-Ing Uta Boockhoff-Gries wuchs auf der Insel Sylt auf, wo sie nach dem Abitur ein Praktikum als Bautischlerin absolvierte. 1965 startete sie ihr Architekturstudium an der Leibniz-Universität in Hannover. Unmittelbar nach ihrem Diplom begann Boockhoff-Gries im Stab des damaligen Hannoveraner Baudezernenten Rudolf Hillebrecht zu arbeiten. 1993 wurde sie Nachfolgerin von Hanns Adrian als Baudezernentin der niedersächsischen Landeshauptstadt – ein Posten, den Boockhoff-Gries bis zu ihrem Berufsausstieg 2007 bekleidete. In dieser Zeit betreute sie unter anderem die EXPO2000 und die damit verbundenen stadtplanerischen Umgestaltungen der Stadt an der Leine. Mit Uta Boockhoff-Gries sprachen David Kasparek und Elina Potratz.

Wie war Ihr Arbeitsbeginn bei der Stadt Hannover?
Wir haben 1971 bei der Stadt Hannover angefangen. Wir, mein späterer Mann, zwei Kommilitonen und ich, waren damals eine Gruppe, die sich schon zu Beginn des Studiums zusammen gefunden hatte. Noch als Studenten wurden wir in die Dezernentenkonferenz der Stadt Hannover eingeladen, weil wir propagierten: „Ihr müsst Stadtentwicklung verkaufen wie Würstchen an einem Stand. Das, was im Rathaus geschieht, kommt sonst nie unter die Leute.“ Wir waren „richtige“ 68er, wohnten schon seit 1966 gemeinsam in einer Wohngemeinschaft. Die Rote-Punkt-Aktion mit Ulla Luther aus Berlin, das Lahmlegen von Straßenbahnen und dergleichen wurde immer in der Architekturabteilung mitorganisiert. Auch unser Examen, für das wir den zweiten Preis beim DEUBAU-Preis erhielten, haben wir zusammen gemacht. Im März 1971 ging es dann bei Hillebrecht los. Er wollte uns alle vier in seinem Team haben.

Welche Themen bewegten Sie als Studentin?
Unsere Diplomarbeit haben wir zum Thema „Reaktivierung Altstadt Hannover“ gemacht. Es ging uns um den öffentlichen Raum und den Gebäudebestand, der damals zu verfallen drohte, und wie man beides reaktiviert.

Die Frage nach dem Umgang mit der Innenstadt hat sich auch in Ihrem Berufsleben entscheidend niedergeschlagen…
Ja. Man kann an den Innenstädten sehen, welche Aufgaben es in einer Stadt gibt. Städte werden über die Innenstädte identifiziert. Es gilt also, die Themen der jeweiligen Innenstadt zu finden und herauszuarbeiten – und die Ergebnisse müssen schön sein.

Was ist das: Schönheit in der Stadt?
Was ist schön? Jeder empfindet etwas anderes als schön. Aber für mich ist es schön, wenn der öffentliche Raum gut gestaltet ist, wenn er Aufenthaltsqualität hat, nicht kommerzialisiert ist und dass keine Gruppen verdrängt werden. Das war in meiner Dezernentenzeit ein Hauptthema für mich. Es ging um Plätze, Straßen, aber auch um den Mittellandkanal. Die Schönheit der Stadt hat damit zu tun, wie die Bürger sie sich aneignen können.

Ernst-August-Platz, Hannover, Foto: Karl Johaentges

Ernst-August-Platz, Hannover, Foto: Karl Johaentges

Geht es beim Thema Schönheit auch um historische Bauten?
Natürlich geht es auch um historische Bauten. Die Menschen haben eine deutliche Sehnsucht nach Historie. Hannover ist eine moderne Wiederaufbaustadt, die zu 90 Prozent zerbombt war. In Hannover gab es schon seit nach dem Zweiten Weltkrieg die Debatte um den Wiederaufbau des Schlosses. Im Rathaus findet man zum Beispiel Stadtmodelle vom Mittelalter, über die Zeit vor der Zerstörung bis hin zum Wiederaufbau. Es kommen unzählige Menschen, die sich das anschauen und man sieht, wie interessiert sie sind, das haptisch zu erleben.

Sie haben das Amt von Hanns Adrian geerbt und von ihm und seinem Vorgänger Hillebrecht einige inhaltliche wie tatsächliche Großbaustellen übernommen. Wo lag der Schwerpunkt Ihrer Arbeit?
Hannover war im 19. Jahrhundert eine Laves-Stadt geworden. Wenn man aus dem Bahnhof in Richtung Innenstadt hinausgeht, sieht man gut diesen Lavesschen Grundriss mit seinen strahlenförmigen Straßenzügen, dem Solitär des Opernhauses, Operndreieck und dergleichen. Ich habe in meiner Zeit einen Schwerpunkt auf die Reparatur der Stadt gelegt und versucht, das Historische herauszuarbeiten, ohne dabei das Moderne und die problematischen Strukturen der sechziger und siebziger Jahre, von denen Hannover auch gebeutelt ist, zu ignorieren.

Inwiefern „gebeutelt“?
Als ich 1993 in Hannover zur Dezernentin gewählt wurde, war das Ansehen der Innenstadt in den Meinungsumfragen im Keller. Das lag an den multifunktionalen Großprojekten der 1960er und 1970er Jahre: die Passerelle, der Raschplatz, das Kröpcke-Center. Projekte, die zum Teil erhebliche Leerstände aufwiesen. In der Passerelle – einer Fußgängerzone in der „-1-Ebene“, die man, apropos Schönheit, nach dem Vorbild eines Basars mit ruppigem Material entworfen hatte – standen viele Ladenlokale leer. Es gab 42 Seitenausgänge und durch das ICE-Kreuz des Hauptbahnhofs war das ein Drogenumschlagplatz mit Just-in-Time-Anlieferung. Die Planungen am Raschplatz oder dem Steintor waren für eine relativ kleine Stadt wie Hannover völlig überdimensioniert.

Wie sind Sie damals vorgegangen?
Wir fanden keinen Investor für die Projekte. Also wurde die Aufgabe mit Hilfe der städtischen Tochtergesellschaften geschultert: die Sparkasse, die Parkhaus-Gesellschaft, die Straßenbahn- und U-Bahngesellschaft. Es gab einen immensen Arbeitseinsatz, hunderte an Terminen mit den Architekten, den Ladenbesitzern. Die Ladenflächen wurden vorgezogen, es gab nur noch einen linearen Hauptweg, statt der massiven Treppen mit Sitzstufen und Nischen dahinter wurden Treppen mit Trittstufen eingebaut, so dass man durch die Treppen hindurch sehen konnte und somit Angsträume verschwanden. Die Drogenszene selber kann man ja nicht vertreiben, also muss man etwas anbieten. Das städtische Sozialdezernat richtete dann Spritzpunkte am Hauptbahnhof ein. Ich hatte, und habe immer noch, die Haltung, dass ich niemanden aus der Stadt verbannen möchte, aber es darf auch keine Gruppen geben, die wiederum andere aus der Stadt vertreiben. Wir hatten auf dem Bahnhofsvorplatz damals sehr große Treppenanlagen und dort saßen viele Punks mit ihren Hunden, sodass keiner mehr heruntergehen mochte. Jetzt haben wir nur noch eine relativ kleine Treppe – auf der keiner mehr sitzt. Für die Stadt war es jedenfalls keine Option, die Passarelle oder das Kröpcke-Loch zuzuschütten.

Oesterleyplatz, Hannover Südstadt, Planung: LHH, Fachbereiche Tiefbau und Stadtgestaltung

Oesterleyplatz, Hannover Südstadt, Planung: LHH, Fachbereiche Tiefbau und Stadtgestaltung

Aber mit dem Kröpcke-Center ist es ja letztlich doch passiert. Dass dort einmal ein Problemklotz aus den siebziger Jahren stand, sieht man dem heutigen Gebäude von Kleihues+Kleihues so gar nicht mehr an…
Das fand ich an der Stelle auch verkehrt, da das alte Kröpcke-Center ein Solitär war. Vom Bahnhofsvorplatz aus gehen strahlenförmig acht Straßen in die sogenannte Ernst-August-Stadt ab. Um nun den Stadtgrundriss zu stärken waren unsere Ziele: der Raschplatz wird nicht zugemacht, die Passerelle bleibt eine zweigeschossige Ladenstraße, aber am Kröpcke kommt ein Deckel drauf und es wird wieder die historische Kubatur hergestellt, denn da war ein Block an dieser Stelle und kein Solitär.

Haben Ihre Vorgänger das Thema Schönheit zu wenig betrachtet? Oder hatten sie eine andere Vorstellung davon?
Ja. Es war aber auch so, dass Rudolf Hillebrecht durch den Krieg sehr beeindruckt war. Hillebrecht, der im „Dritten Reich“ bei Konstanty Gutschow in Hamburg gearbeitet hatte, ist im Krieg durch seine zerbombte Heimatstadt Hannover gefahren und hat nie gedacht, dass es danach so lange Frieden bleiben würde. Er war geprägt von den Bildern des Feuersturms und der Schuttkegel. Also durften die Straßen nicht zu eng und zwischen den Häusern mussten Schuttkegel möglich sein. Ihm ging es um die Durchlüftung der Stadt, um Freizeitwerte und großräumiges Grün ganz nah am Stadtmittelpunkt. Hillebrecht wollte in der Innenstadt niedrig-geschossig bauen – möglichst nicht über vier Geschosse. Das wurde damals „Herunterzonung“ genannt: Nichts durfte höher sein als die historischen Kirchen. Um die Kirchen gab es „Traditionsinseln“ mit zweigeschossigem Wohnungsbau – berühmt dafür ist das Kreuzkirchviertel.

Die Wiederaufbauzeit in den Fünfzigern hat Hannover viel guten und schönen Wohnungsbau gebracht. Das muss man bei der Nachverdichtung unbedingt beachten. Man sollte vorsichtig sein, dass man die Stärken nicht verliert. Hannover wurde aus meiner Sicht etwas zu sehr „heruntergezont“, die Straßenräume, auch die historischen, wurden zum Teil sehr breit angelegt. Diesem dann nur mit vier Geschossen zu begegnen, ist zu wenig. Deshalb haben wir auch großzügig Aufstockungen zugelassen. Die Verkehrsschneisen sind sicher aus heutiger Sicht überdimensioniert. Mein Nachfolger jedenfalls versucht es, mit „Hannover 2020“ zu reparieren. Leider wurden die Mittel für Teile des Projekts gerade vom Rat verschoben – eine Streichung wäre fatal. Was aber gut ist: Die Straßenräume sind jetzt in den Fahrgassen verengt, was große Flächen für Außengastronomie ermöglicht. Wir haben in den letzten zwanzig Jahren so viel Außengastronomie entlang der Hauptachsen in den zentralen Bereichen bekommen – das konnte man sich in den Fünfzigern und Sechzigern überhaupt nicht vorstellen.

Fiedelerplatz, Hannover Döhren, Planung: Büro für Freiraumplanung Christine Früh

Fiedelerplatz, Hannover Döhren, Planung: Büro für Freiraumplanung Christine Früh

Das Verhalten der Menschen im öffentlichen Raum hat sich in den letzten Jahren sehr gewandelt. Eines Ihrer wichtigsten Projekte, den Bahnhofsvorplatz, betrifft das direkt.
Zur EXPO 2000 hatte ich den Verkehr vom Ernst-August-Platz, dem Bahnhofsvorplatz, verbannt. Hannover hatte bis dahin fast nur Außengastronomie im Schatten. Jetzt ist vor dem Bahnhof nach Süden hin ein richtiger Platz ohne Durchgangsverkehr mit zwei Außengastronomien entstanden. Sie sind sehr beliebt. Hannover ist vielleicht nicht die allerschönste der deutschen Städte, aber es hat den schönsten Bahnhofsvorplatz.

Außerhalb Hannovers fällt die Betrachtung der Weltausstellung im Jahre 2000 etwas skeptisch aus. Wie ist Ihr Fazit?
Es ist nie gelungen, die gute Nachnutzung von zwei Dritteln des Areals als Messegelände zu kommunizieren. Das EXPO-Areal in der Folge als Messegelände zu nutzen war die Idee der Architekten in ihrem Wettbewerbsbeitrag – und nicht als Forderung für den Wettbewerb ausgeschrieben. Für mich persönlich waren die Erfahrungen mit der EXPO zudem fantastisch. Die EXPO war zu Beginn nicht unbedingt ein Besucher-Magnet, aber die Stadt hat enorm von ihr profitiert. In der Stadt und der Region wurden für 2,7 Milliarden Mark Verkehrsinfrastruktur umgesetzt, die wir uns vorher nie hätten leisten können. Das war ein toller Entwicklungsschub – auch für folgende privatwirtschaftliche Investitionen. Die Zeit schreitet aber sehr schnell voran: Die EXPO ist jetzt schon 17 Jahre her, man müsste eigentlich schon wieder gewisse Erneuerungen vornehmen.

Das Projekt stand schon von vielen Seiten her in der Kritik. Dazu wurden immer diese prototypischen Aufnahmen des niederländischen Pavillons gezeigt, der völlig abgewirtschaftet im gefühlten Nichts steht…
Aber die Kritik hört man nicht aus Hannover! Hier ist die Bevölkerung sehr zufrieden mit der EXPO. Und den Pavillon liebe ich! Es gibt zwar immer noch keine Nachnutzung, das stimmt, aber er ist auch noch nicht abgerissen. Ich denke, dass Stadt und Region das Beste aus der Situation herausgeholt haben. Wenn die EXPO in eine Stadt kommt, ist das ungefähr so, wie wenn ein Besatzer einfällt. Ein Beispiel ist für mich der Wettbewerb zum deutschen Pavillon, den Florian Nagler gleich zwei Mal gewonnen hat. Darauf haben wir nie wirklich Zugriff bekommen und am Ende wurde ein Unternehmen aus Friedrichshafen mit der Umsetzung beauftragt. Wirklich bitter. Aber man muss so etwas wie die EXPO ausnutzen und sehen, wie man davon profitieren kann. Wir konnten den Messeschnellweg, den Hillebrecht geplant hat, kreuzungsfrei machen und wir haben das von Rudolf Hillebrecht in den 1950er Jahren angedachte S-Bahn-System bekommen.

Sie erwähnten bereits den Bahnhofsvorplatz und nun die Verkehrsplanungen, bei denen Hannover von der EXPO profitiert hat. Gab es weitere gelungene Projekte?
Hillebrecht hat seinerzeit in Hannover vier Großwohnsiedlungen geplant, in denen Wohnen und Arbeiten Platz hatten. Aber er hatte immer nur den Städtebau als „gebaute Landschaft“ vor Augen. Statt vieler Hochhäuser gab es in jeder Siedlung aber nur ein „Rückgrat-Hochhaus“. In Vahrenheide wurde in meiner Zeit eines abgerissen – ich weiß nicht, ob ich das heute noch machen würde. Vahrenheide war ein Pilotprojekt des Programms „Soziale Stadt“, das wir als EXPO-Ausgleichsmaßnahme in die Stadt nahmen. Ebenfalls als EXPO-Ausgleichsmaßnahme entstand als Sonderprogramm ein Stadtplatzprogramm. Ziel war es, in jedem der 49 Stadtteile Hannovers einen zentralen Platz umzugestalten – mit Bürgerbeteiligung.

Von-Alten-Garten, Hannover Linden-Mitte, Planung: Andreas Ackermann Landschaftsarchitekt

Von-Alten-Garten, Hannover Linden-Mitte, Planung: Andreas Ackermann Landschaftsarchitekt

Bürgerbeteiligung ist ein Thema, das in den letzten Jahren wieder aktuell geworden ist…
Ja, das stimmt. Für mich ist Bürgerbeteiligung seit der Studienzeit wichtig. Wir haben Anfang 1970 Bürgerbeteiligung – mit Planspielen und Bauklötzen – gemacht. Damals ging es darum, wie man Großwohnsiedlungen weiterbauen soll. 1974 haben wir Bürgerversammlungen in Roderbruch abgehalten – auch eine Großwohnsiedlung. Schon damals gab es Programme, Flüchtlinge oder Aussiedler aus dem Osten aus den Zwischenlagern herauszuholen, es ging dabei meist um die Unterbringung von Familien mit vielen Kindern. Von Anfang an war Sozialer Wohnungsbau in Hochhäusern problematisch. Wir haben in zwei Großwohnsiedlungen Brettspiele gemacht, die klären sollten, wie sich die dort bereits Wohnenden das weitere Wachstum der Siedlung vorstellten.

Schon vor Ihrer Zeit als Baudezernentin haben Sie unter Ihren Vorgängern in der Stadtplanung gearbeitet. Wie war die Arbeit im Stab von Rudolf Hillebrecht?
Hillebrecht ließ einem viel Raum. Und er gab einem auch sofort große Aufgaben an die Hand. Mit gerade 28 Jahren hatte ich bereits viel Verantwortung. Ich habe an der Innenstadt mitgearbeitet und hatte die schon erwähnte Großwohnsiedlung mit medizinischer Hochschule in Roderbruch weiter zu entwickeln. Dort haben wir entschieden, dass wir ganz anders weiterbauen: Nämlich mit einer vier- bis sechsgeschossigen Blockbebauung, statt der geplanten Zeilen. Es gab damals ein Baurecht für ein 22-stöckiges Service-Hochhaus. Der spätere Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg und ich sind damals in die Fachausschüsse des Rats marschiert und haben vorgelegt, was „Service-Hochhaus“ überhaupt bedeutet und dass es das in der geplanten Form gar nicht gibt. Das war nämlich ein genehmigter Bauantrag der städtischen Wohnungsbaugesellschaft. Das Projekt hat die Stadt 1973 zu Fall gebracht.

Es war also eine Umbruchzeit…
Ja, auf jeden Fall. Das Kröpcke-Center, der Raschplatz und auch die Großwohnsiedlungen waren im Bau. Und kurz danach kam die Ölkrise. Ab dann wurde ohnehin alles anders. Man wusste schon, dass das mit der Vollbeschäftigung so nicht mehr hinhaut… Und: Man sah bei den Großwohnsiedlungen bereits beim ersten bezogenen Hochhaus, dass es nicht funktioniert.

Die Großwohnsiedlungen sind ein heikles Thema. Sie gelten bis heute in vielen Städten als Makel. Wie nahmen Sie die Bauten der sechziger und siebziger Jahre in Ihrer Amtszeit wahr?
Die sechziger Jahre waren ein Bruch, an der Reparatur werden noch Generationen zu tun haben. Ich habe mich daran abgearbeitet, mein Vorgänger Hanns Adrian musste das noch nicht, er hatte andere Herausforderungen: Er wurde 1975 unmittelbar nach der Ölkrise gewählt. Die Planungen der (Bau- und Planungs)Euphorie wie die Metastadt und dergleichen, waren Mitte der Siebziger mit einem Mal zu Ende. Hanns Adrian hat sich ob des in Verruf geratenen Städtebaus der 1960er und -70er Jahre einmal als „Rückzugsgeneral“ bezeichnet. Man musste sehen, wie die angefangenen Sachen zu Ende gebracht werden sollten. Wie geht man also mit diesen Großstrukturen um? Ein Beispiel ist das Ihme-Zentrum. Daran haben sich jetzt schon drei Investoren versucht…

Bonifatiusplatz, Hannover Vahrenwald-List, Planung: Spalink-Sievers Landschaftsarchitekten

Bonifatiusplatz, Hannover Vahrenwald-List, Planung: Spalink-Sievers Landschaftsarchitekten

Können Großprojekte wie das Ihme-Zentrum überhaupt gelingen?
Wohnhochhäuser, das ist meine feste Meinung, kann man schon bauen, aber nur für Leute, die sich das selber aussuchen können. Beim Sozialen Wohnungsbau, für den ich als Planerin lange zuständig war, funktionieren sie nicht.

Was könnten Alternativen im Fall des Sozialen Wohnungsbaus sein?
Ich habe einen Qualitätsleitfaden entworfen, der sich klar für vier- bis fünfgeschossige Gebäude ausspricht, aus Kostengründen ohne Lift. Heute würde man dies aus Gründen der Überalterung der Gesellschaft wohl noch einmal überdenken. Aber ich fand es immer wichtig, wie viele Familien an einen Treppenaufgang angegliedert sind und wie das Wohnumfeld aussieht: Gibt es Mietergärten und Orte für die Gemeinschaft, bis hin zur Frage, wo man den Kinderwagen abstellen kann. All das ist in den Großwohnsiedlungen nicht gut gelöst. Man muss für alle Nutzergruppen und Geldbeutel Angebote schaffen. Das sind Themen, die bleiben – und die doch immer wieder neu erarbeitet werden müssen. Es sollte so sein, dass die Einzugsbereiche von Schulen und anderen Infrastrukturen von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen erreicht werden können. Die Körnigkeit der Stadt ist wichtig, so dass man keine no-go-areas bekommt. Hannover war immer sehr sozial: „Ausgleich statt Spaltung“ war und ist das Ziel. Außerdem war es das große städtebauliche Thema, Gesamtprogramme aufzulegen, die definieren, wo der Soziale Wohnungsbau hinkommt – nachdem man sehr klar festgestellt hat, dass Großwohnsiedlungen ein Fehler waren.

Man bewegt sich in einem großen Spannungsfeld: Sie haben die Positionierung von sozialem Wohnungsbau angesprochen, aber auch das Problem, dass man als Stadt bei bestimmten Baustellen kaum noch Handhabe hat, weil die Besitzer wechseln.
Man muss unterscheiden zwischen den großen komplexen Bauvorhaben, bei denen Investoren nur entwickeln und dann weiterziehen, und dem Sozialen Wohnungsbau. Das ist übrigens auch bei Umnutzung von Gewerbe- und Industriebrachen der Fall, wenn neue Gebiete für Wohnungsbau ausgewiesen werden. Wir haben Projekte entwickelt mit individuellen Reihenhäusern, die von Westen und Osten her erschlossen werden, damit man nicht immer nur Eingang, Küche, Gäste-WC hat, und den Zaun von der nächsten Seite. Das ist schon ein großer Unterschied. Man darf sich auch nicht nur auf eine Wohnform festlegen, sondern muss in jedem Stadtgebiet verschiedene Varianten anbieten. Wir haben verdichtete Einfamilienhausgebiete angeboten mit Vorratsbauweise und eigener Bauherrnrolle, und zu einem gewissen Teil auch freistehende Einfamilienhäuser auf kleinem Grundstück – das alles mit einer Gestaltungssatzung, zum Beispiel Davenstedt-West. Was übrigens nicht gut ankam im Rat der Stadt, teilweise wollten sie das einfach nicht. Wir sind vielleicht auch etwas zu weit gegangen, als wir  sogar die RAL-Farben für die Klinker vorgegeben  haben… Aber die Siedlung ist bis heute sehr gut.

Das wird auch von vielen retrospektiv als Qualität angesehen. Wie steht es um die Möglichkeiten der Stadt, solche Prozesse zu steuern?
Man muss es kommunizieren. Ich habe es als Stadtbaurätin so verbreitet, dass der Verkaufswert der Häuser, die in einer gewissen Einheit in der Vielfalt gebaut sind, höher ist, als bei jenen, wo alles erlaubt war. So kann man die Leute auch überzeugen. Man muss es eben verkaufen (lacht). Und man muss relativ viel unterwegs sein, um die Themen, die man für richtig hält, unter die Leute zu bringen. Die Öffentliche Hand geht voran und sagt: „Wir investieren in diesen Ort, der ist uns viel wert“, und dann kommen private Investitionen hinzu. Man muss Glück haben, dass man gute Bauherren bekommt.

Dazu braucht es nicht nur Glück, sondern auf beiden Seiten Personen, die etwas vom Fach verstehen und die ein Interesse am Standort haben. Hat sich dieser Diskurs im Laufe Ihrer Berufszeit geändert?
Es ist heute eindeutig schwieriger geworden. Diese „reisenden Fonds“ fühlen sich mit der Stadt ja nicht verbunden. Sie versuchen, das Beste auszuhandeln, und man geht als Stadt – je nach Wirtschaftskraft – immer einen Kompromiss ein. Dabei muss man vorsichtig sein und im Hinterkopf haben, dass der Investor im nächsten Jahr auch schon wieder weg sein kann. Man muss versuchen, mit möglichst vielen Wettbewerben Architekturqualität zu schaffen. Das wichtigste Ziel ist erst einmal, die richtige Nutzung an die richtige Stelle zu bekommen und dann mit dem Bauherrn so umzugehen, dass man beiderseitig verlässlich ist. Das kann man nur, wenn man eng mit allen Beteiligten zusammen arbeitet – mit dem Rat, den Wohnungsunternehmen, Einzelhändlern, Bürgerversammlungen und nicht zuletzt mit den Architekten. Es geht nur mit viel Kommunikation. Über Architektur lässt sich mit einer großen Beteiligung eben nicht streiten, aber es gibt Beteiligungsformen, die sehr wohl gut funktionieren und bei denen Planungen in Alternativen zur Diskussion gestellt werden. Man muss die Einwohner mitnehmen.

Ernst-August-Platz, Hannover, Luftbild: Karl Johaentges

Ernst-August-Platz, Hannover, Luftbild: Karl Johaentges

Ist das der Schlüssel, um solche Projekte wie das Ihme-Zentrum in den Griff zu bekommen?
Das weiß ich nicht. Ich habe vierzehn Jahre am Ihme-Zentrum gearbeitet. Es gibt über 400 Wohnungen über einer zweigeschossigen Gewerbezone und einer zweigeschossigen Garagenanlage. Die Bauten der sechziger und siebziger Jahre haben meist den Fehler, dass Fußgänger auf der Minus-Eins-Ebene oder Plus-Eins-Ebene abgekoppelt werden. Bei der Stadtreparatur wurden die Gebäude auf die Füße gestellt, die Eingänge müssen auf die Null-Ebene und dazu gibt es einen Rad- und einen Fußweg.

Diese ganzen geschichteten multifunktionalen und komplexen Bauvorhaben der 1960er und 1970er Jahre müssen auf die Füße gestellt werden. Im Erdgeschoss kann kein Parken sein, da müssen Ladennutzungen oder ähnliches hinein. Beim Ihme-Zentrum gab es dafür Konzepte mit großen Einzelhandelsstrukturen im Erdgeschoss und kleineren Strukturen mit Büros und Künstlerateliers im ersten Obergeschoss. Oben leben ja die Wohnungseigentümer, deren Wohnungen ihre Altersvorsorge ist. Ich war oft vor Ort und habe mit Bürgerinitiativen gesprochen. Der Durchbruch war eigentlich nahe, aber auch das wurde dann nichts.

Wie betrachten Sie die aktuelle Stadtbaudiskussion?
Bei manchen Diskussionen denke ich, dass sie vor Jahrzehnten schon gelaufen sind… Was fehlt, ist zum Beispiel die Verstetigung im Sozialen Wohnungsbau. Derzeit habe ich den Eindruck, dass so viel Wissen verloren gegangen ist. Sicher ist es jetzt Aufgabe, Migranten zu integrieren. Aber das hatten wir nach Öffnung der Grenzen Anfang der 1990er Jahre sowohl mit den Russlanddeutschen als auch mit den Balkan-Flüchtlingen schon einmal. Das hat damals funktioniert. Im letzten Jahr wurde zu viel Angst geschürt. Die Aufgabe ist jetzt größer, weil Ängste durch Wirtschaftskrise, Globalisierung und Digitalisierung hinzukommen. Das Thema „Wohnraum von Armen in der Nachbarschaft“ ist sehr angstbesetzt und daran muss man immer wieder arbeiten. Das vorausschauende Planen über Generationen hinweg fehlt. Man braucht eine robuste Struktur, wo die verschiedenen Wellen, die relativ nah aufeinander folgen, keine Schäden anrichten. Man muss heute die Erfahrungen ein wenig durcharbeiten und dann dort wieder anknüpfen. Es gibt ja neue Themen mit der Frage nach Energie, nach kleineren Wohnungen für junge Singles und alleinstehende Ältere. Und natürlich muss man immer wieder schauen, dass nicht nur Wohlhabende in der Innenstadt wohnen können. Eine uralte Forderung ist die Verstetigung des Wohnungsbaus. Es gilt, dass Bund, Land und Stadt sich wieder gleich beteiligen mit einem nicht zu knappen Topf und zwar für diejenigen, die die Mieten in den Städten nicht mehr bezahlen können. Daran geht kein Weg vorbei.

Gibt es ein gescheitertes Projekt in Ihrer Amtszeit?
Richtig gescheitert ist bisher eigentlich nichts. Es hätten sicher einige Projekte besser laufen können, zum Beispiel bei der EXPO-Siedlung. Wir haben mehrere Jahre keine Investoren gefunden und der Eröffnungszeitpunkt rückte näher… Wir hatten das Baurecht nach vorherigen Wettbewerben und bereits damit begonnen, die Erschließung zu legen – aber der Bund hatte immer noch nicht das „Go!“ für die EXPO gegeben. Da bekommt man schon Sorge. Alles war fertig – und dann wollte keiner bauen. Ich wollte die gesamte Wohnungswirtschaft der Region Hannover dabeihaben: eine Risikogesellschaft, die sich 2.500 Wohnungen auf der grünen Wiese aufteilen sollte. Aber sie wollten einfach nicht in eine Siedlung am Stadtrand investieren. Dann hat Gerhard Schröder als damaliger Ministerpräsident Niedersachsens die Finanzierung oben aufgehängt – und dann waren sie dabei. Jeder bekam 100 Wohneinheiten und einen Block. Wir haben in jedem Block drei oder vier Finanzierungsarten umgesetzt: frei oder mit EXPO-Mitteln finanziert, und als sozialer Wohnungsbau, alle mit verschiedenen Laufzeiten. Mit der Stabilität der zwanzig Wohnungsbauunternehmen haben wir uns aber auch Nachteile eingehandelt. Zum Beispiel hinsichtlich der architektonischen Qualität. Der Städtebau dabei ist stark, aber das gebaute Ergebnis teilweise nicht ausreichend. Es gibt sehr gute Architektur dabei, aber auch weniger gute. Es gab zu wenig Wettbewerbe für die Wohnungsbauten – das konnten wir, anders als bei den Bürobauten zum Beispiel, nicht durchsetzen.

Es ist nun einmal so, dass man zu Beginn seiner Tätigkeit Projekte zu Ende bauen muss, die man nicht geplant hat, gleichermaßen, wenn man seinem Nachfolger Vorhaben überlassen muss, die er zu Ende bringen muss…

Elina Potratz (*1989) studiert Kunst- und Bildgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und absolviert seit 2016 ein studienbegleitendes Volontariat in der Redaktion von der architekt.

Dipl.-Ing. David Kasparek (*1981) studierte Architektur in Köln. Er war Mitarbeiter an der Kölner Kunsthochschule für Medien und als Gründungspartner des Gestaltungsbüros friedwurm: Gestaltung und Kommunikation als freier Autor, Grafiker und Journalist tätig. Nach einem Volontariat in der Redaktion von der architekt ist er dort seit 2008 als Redakteur beschäftigt. David Kasparek lebt und arbeitet in Berlin.

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