kritischer raum

Ein Architektur-Erlebnis

Der Umbau der St.-Agnes-Kirche von Brandlhuber+ Emde, Burlon, Berlin, 2012–2015 (Sanierung und Ausführung: Riegler Riewe Architekten)

St. Agnes war ein katholisches Gemeindezentrum in der Alexandrinenstraße in Berlin-Kreuzberg, das nach Plänen von Werner Düttmann zwischen 1964 und 1967 entstand. 2005 gab die Gemeinde angesichts der rückläufigen Zahl der Gemeindemitglieder die Anlage auf.  Zwischenzeitlich mietete eine evangelische Freikirche die Räume für ihre Zwecke. Als die Gemeinde 2012 ihre inzwischen denkmalgeschützte Immobilie mit Kirche, Kindergarten und Gemeindehaus endgültig veräußern wollte, schaltete sich der Architekt Arno Brandlhuber ein, der den Berliner Galeristen Johann König auf den Bau aufmerksam machte.

Düttmanns Ensemble mit einem gedrungenen campanileartigen Turm, einem fast fensterlosen Kirchenquader und Anbauten mit Gemeindesaal und Pfarrer- und Hausmeisterwohnung, die um einen Hof herum gruppiert sind, wirkt auch heute noch faszinierend befremdlich. Im Äußeren ist es der grobe Rauputz, der das gesamte Ensemble bekleidet und dessen graues All-Over der Architektur einen optischen Effekt verleiht, der sie von der Umgebung zu distanzieren scheint. Das Beeindruckendste des Bestandsbaus war der große einheitliche Kirchenraum mit seinen hohen grau verputzten Wänden, der sich – auch heute noch – durch gedrungene Joche mit leicht eingezogenen Stützen zu dunklen Seitenschiffen öffnet, die teilweise aus geborgenen Trümmerziegeln aufgemauert sind. Der gesamte Einraum wurde nur durch Oberlichtbänder erhellt, deren Lichteinfall im Zusammenklang mit den hohen Wänden eine erhaben-monumentale Wirkung erzeugte.

Die besondere Qualität des brutalistischen Gebäudes überzeugte auch den Galeristen. König fasste den Entschluss, das Ensemble zu erwerben und die Kirche mit Brandlhuber zum Ausstellungsgebäude umzubauen. Zunächst wurde das Gemeindezentrum mit wenig Aufwand für kulturelle und gewerbliche Zwecke hergerichtet: Heute sind hier ein Architekturbüro, eine Bildungseinrichtung, ein Kunstbuchverlag, ein Kulturmagazin und ein Café untergebracht.

Der Umbau des Kirchenraums barg mehr Probleme. Die trotz – oder wegen – der vermeintlich groben Form und Materialität unbedingt erforderliche Sensibilität im Umgang mit Substanz und Raum gab Anlass zu einem „minimalinversiven Eingriff“, wie Brandlhuber das Konzept umschreibt: Neben der Sanierung der Wände und des Daches schlugen die Architekten vor, in den großen Raum einen Betontisch auf Reihen von Stützen mit querrechteckigem Querschnitt zu setzen. So entstand eine zweite Ebene, deren Unterseite als Decke des Erdgeschosses die sakrale Wirkung des Raums mildert, aber die feierliche Atmosphäre nicht grundsätzlich zerstört. Die horizontale Unterteilung ermöglicht die gesamte neue technische und mediale Versorgung des Bauwerks und eine funktionale Trennung: Im Narthex-ähnlichen Vorraum sind nun ein Empfangstresen und die Bibliothek untergebracht, das Erdgeschoss des ehemaligen Schiffs nimmt das Schaulager der Galerie auf und sondert in der ehemaligen, durch Stufen leicht erhöhten Chorzone eine Fläche für Bürozwecke aus.

Das neue Obergeschoss wird durch das wuchtige, auf quadratischem Grundriss ansteigende Treppenhaus des Turms gleich neben dem Eingang in die ehemalige Kirche erschlossen. Der Aufstieg ist der Beginn eines architektonischen Erlebnisses: Die raue Materialität und die industrielle Farbigkeit des lediglich konservierten Sichtbetons bekommen durch eine geschickte Lichtregie besondere Intensität. Die holzverschalten oder gestockten Flächen von Brüstung, Treppen und Wandung gehen durch die Varianz und Interdependenz des Grau ein fast farbig wirkendes perspektivisches Spiel ein. In der Bewegung aufwärts werden ständig wechselnde räumliche Bilder wahrnehmbar.

Schließlich öffnet sich eine einfache Tür in den großen Ausstellungsraum, der das gesamte Obergeschoss einnimmt. Der Wechsel des dunklen, geführten Wegeraums des Treppenhauses in den hellen, weiten, freilassenden Ortraum der Ausstellungshalle ist die vielleicht schönste architektonische Wirkung, die der Umbau zu bieten hat. Düttmanns ursprüngliche Konzeption hat trotz einer neuen Deckenkonstruktion hier nichts an Wirkung verloren. Nach dem Betreten des niedrigeren Eingangsbereichs ergibt sich der Blick auf die leicht erhöhte Ausstellungszone, die sich gleichermaßen für Rauminstallationen wie für Bildpräsentationen eignet: Es öffnet sich ein wahrnehmbar gut proportionierter, feierlicher, atemberaubender Raum, der zur ruhigen Anschauung anleitet. Besondere Intensität bekommt das Raumerlebnis durch den Lichteinfall eines am „Raumende“ befindlichen vertikalen Fensterbands, das schon beim Altbau den Rabitzputz der Chorwand mit atmosphärisch wirksamem Streiflicht inszenierte. Der neue Boden ist mit drei Stufen ähnlich wie das Erdgeschoss in zwei Zonen geteilt und mit geringem Abstand zu den Wänden frei in den Raum gestellt – was neben der denkmalpflegerisch gern gesehenen Reversibilität des Eingriffs auch minimale räumliche Effekte durch Licht und Klang erzeugt.

Arno Brandlhubers Idee (siehe der architekt 3/13, S. 33-35), durch den Umbau einen wertvollen Bau der 1960er Jahre getreu der Charta von Venedig in „eine der Gesellschaft nützliche Funktion“ zu überführen, ist beeindruckend gelungen: Die Architekten haben Düttmanns große Raumidee für St. Agnes so fortgeführt, dass trotz neuer Nutzung und eingreifender Veränderung dennoch die Raumwirkung des Baus erhalten, wenn nicht sogar intensiviert worden ist: Ein Triumph des Weiterbauens.

Andreas Denk

Fotos: Andreas Denk, Wikformi (via wikimedia / CC BY-SA 3.0 de)

 

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