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„Towards a high-quality Baukultur for Europe” lautet der Titel der Davos Declaration, in der sich die europäischen Kulturministerinnen und -minister 2018 auf Baukultur als politisches Ziel geeinigt haben. Der deutsche Begriff hat es also zum internationalen Schlagwort gebracht. Das bedeutet aber nicht, dass im deutschsprachigen Raum die baukulturelle Bildung auch besonders verbreitet wäre; in Finnland beispielsweise ist sie deutlich etablierter. Um das zu ändern, hat sich in der Schweiz 2008 der Verein Archijeunes gegründet, der nun mit den „Elementen einer baukulturellen Allgemeinbildung“ ein Grundlagenwerk vorgelegt hat, das für das Bildungssystem Deutschlands mindestens genauso interessant ist. Es trägt Inhalte aus Forschung und Praxis zusammen und bietet Lehrpersonen, die oft selbst nur rudimentäre Erfahrung auf diesem Themengebiet haben, ebenso wie interessierten Laien die nötige Orientierung. Anders als bei Publikationen ähnlicher Zielrichtung der Bundesstiftung Baukultur oder der Wüstenrot Stiftung geht es hier ausschließlich um Inhalte, nicht auch um Methoden. Dass diese als nächster Schritt aber ebenso essenziell sind, betont Kathrin Siebert, der Kopf hinter dem Buchprojekt, in ihrer Einleitung.
Mit der Darstellung von Baukultur in all ihren Facetten ist die Publikation absolut ausgelastet, weil sie das Thema zeitgemäß und damit äußerst breit angeht. Zu Wort kommen Fachleute der Disziplinen Architekturgeschichte, Soziologie, Raumplanung, Projektentwicklung, Konstruktion, Digitales sowie Nachhaltiges Bauen, Denkmalpflege, Architektur, Architekturtheorie, Verkehr, Energie, Landschaftsarchitektur und Städtebau – darunter viele prominente Namen wie Martina Löw, Gabi Dolff-Bonekämper, Elli Mosayebi, Laurent Stalder oder Vittorio Magnago Lampugnani.
Eine Definition der Baukultur als „Bedingung für eine lebenswerte Umwelt“ unternimmt einleitend Ákos Moravánszky, der auch mit falschen Auslegungen aufräumt. In den 1930er Jahren sei Baukultur zwar als Synonym für „Baukunst“ und Kampfbegriff gegen die Moderne gebraucht worden, habe sich inzwischen jedoch von dogmatischen ästhetischen Fragen befreit. Gleichzeitig warnt er davor, dass Politik und Verwaltung ihr Verständnis von Baukultur zunehmend vom verantwortungsbewussten Bauen lösten und mit glatt laufenden, konfliktfreien Verfahren gleichsetzten, die die produktive Auseinandersetzung scheuten.
Im Laufe der Lektüre schälen sich Widersprüche zwischen einigen der Beiträge heraus. Während Moravánszky Public Private Partnerships noch dafür kritisiert, dass sich der Staat aus der Verantwortung stehle, lobt Projektentwickler Niklas Naehrig in seinem Beitrag – dem wohl kontroversesten des Buches – solche „dichten Netzwerke der Kooperation“ für die Umsetzung städtebaulicher Großprojekte. Ein weiterer impliziter Streitfall ist die Digitalisierung, beispielsweise in Form des Building Information Modeling (BIM), das Benjamin Dillenburger als „verbindliche Entscheidungsgrundlage“ preist, wohingegen Laurent Stalder bezweifelt, dass solch ein Ordnungssystem dem „Anspruch der Architektur“ gerecht werden könne.
Dass an diesen Stellen keine trügerische Einhelligkeit erzeugt wird, sondern verschiedene Positionen nebeneinander stehen bleiben, trägt zur Qualität des Bandes bei. Hinzu kommt eine zweite Unvereinbarkeit, nämlich die der beiden Gattungen des Architektur- und des Lehrbuchs. Dieser Spagat gelingt, indem die brave, didaktische Gliederung nach Themengebieten durch ein selbstbewusstes, typolastiges Grafikdesign sowie einen mehrteiligen, poetischen Bildessay des St. Galler Künstlers und Fotografen Sebastian Stadler konterkariert wird.
Neben Antworten auf grundlegende Fragen – Martin Tschanz hat seinen Beitrag zum Beispiel mit „Weshalb Architekturgeschichte?“ überschrieben – liefern die „Elemente einer baukulturellen Allgemeinbildung“ also bereits Diskussionsstoff, der hoffentlich ebenfalls seinen Weg in die Schulen findet. Denn, so schreibt der Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach, es geht bei der baukulturellen Bildung nicht nur um die Aneignung von Wissen, sondern auch um die Verfeinerung der Wahrnehmung und die Entwicklung von Urteilskompetenzen – oder, kurz gesagt: „Wer mehr kennt, sieht mehr.“
Maximilian Liesner
Titelbilder: Sebastian Stadler