Buch der Woche: Adaptive Re-Use

Unterschätzter Nachkriegswohnbau

Der Wohnraumbedarf steigt gerade in Städten oder am Stadtrand rapide. Zugleich wird immer deutlicher: Zersiedelung und Flächenverbrauch dürfen nicht weiter zunehmen, bestehende Infrastrukturen müssen besser genutzt werden. Insbesondere die oft locker gestreute und durchgrünte Bebauung von Nachkriegssiedlungen scheint daher prädestiniert, um durch Nachverdichtung neuen Wohnraum zu schaffen. Die Publikation „Adaptive Re-Use. Strategies for Post-War Modernist Housing“, herausgegeben von Maren Harnack, Natalie Heger und Matthias Brunner, erkennt die Folgerichtigkeit dieser Entwicklung an, plädiert jedoch auch bei den Nachkriegswohnsiedlungen für einen achtsameren Umgang. Denn einige Siedlungen, die durchaus städtebauliche und architektonische Qualitäten und Besonderheiten vorweisen, sind Abriss und Überformung oftmals schutzlos ausgeliefert.

Die Problematik liegt dabei insbesondere im Fehlen von Ensemble- oder Denkmalschutz, der den Erhalt von charakteristischen Bau- und Freiraumstrukturen gewährleisten könnte. Mission des Buches ist daher, die Qualitäten einiger, oftmals zu wenig wertgeschätzter Siedlungen hervorzustellen und internationale Beispiele für die gelungene Bewahrung oder Weiterentwicklung dieser Bauensembles zu versammeln.

Im Beitrag zur Neuen Vahr in Bremen wird beispielsweise beschrieben, wie man sich heute bei der Weiterentwicklung wieder an den ursprünglichen Konzepten aus den 1950er und 1960er Jahren orientiert. In der Neuen Vahr zeigt sich zudem exemplarisch, wie zufrieden  Bewohnerinnen und Bewohner in vielen Nachkriegssiedlungen sind, auch wenn diese in der Vorstellung der Allgemeinheit wenig beliebt erscheinen. Auch in Wolfsburg ist durch das Engagement der Stadt und der Denkmalbehörden die Bewahrung einiger Siedlungen, die nicht als Denkmale gelistet sind, gelungen. Die Autorinnen Susanne Dreissigacker und Nicole Froberg zeigen anhand von Beispielen, wie durch Fördermaßnahmen und im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten Strategien zum Schutz der Siedlungen entwickelt werden konnten.

Dass der Erhalt von Nachkriegswohnkomplexen in diesem Band jedoch keinesfalls dogmatisch betrachtet wird, zeigt sich am Beitrag von Frank Wassenberg zur Großwohnsiedlung Bijlmermeer in Amsterdam. Die in den 1960ern und 1970er gebaute, großmaßstäbliche Plattenbausiedlung war schon kurz nach dem Bau in eine Abwärtsspirale geraten, immer wieder vorgenommene Verbesserungsmaßnahmen scheiterten, erst beherzte Eingriffe, bei denen auch große Teile der Siedlung abgerissen wurden, brachten die erwünschte Verbesserung. Die Publikation leistet mit diesem ausgewogenen Blick einen wichtigen Beitrag, um Siedlungen der Nachkriegsmoderne nicht nur als Freiflächenressource für Wohnraum, sondern auch als eigenständige und oftmals auch bewahrenswerte Orte zu betrachten. Es wäre tatsächlich zu schade, würde man den Wert solcher Wohnsiedlungen erst dann erkennen, wenn unwiderrufliche Zerstörungen bereits stattgefunden haben.

Elina Potratz

Maren Harnack / Natalie Heger / Matthias Brunner (Hrsg.): Adaptive Re-Use. Strategies for Post-War Modernist Housing, jovis Verlag, Berlin 2020, 144 Seiten, 60 farb. und s/w Abb, Englisch, 29,80 Euro, ISBN 978-3-86859-611-3

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