Buch der Woche: Mies van der Rohe – ein visionärer Architekt

Frauenheld, Trinker, Architekt

Agustín Ferrer Casas hat nach eigenem Bekunden seit seiner Kindheit Comics gezeichnet und an Wettbewerben teilgenommen. Irgendwer muss dem jungen Agustín aber wohl eines Tages eingeflüstert haben, lieber „etwas ordentliches“ zu lernen, sodass der in Pamplona geborene Casas Architektur studiert, als Architekt arbeitet und dieses Fach schließlich auch an der Universität von Navarra unterrichtet. Das Comiczeichnen hat er dennoch nicht aufgegeben. Im Gegenteil: Im Alter von 40 Jahren entschied er sich 2011 dazu, es zu seinem eigentlichen Beruf zu machen. Im Laufe der letzten Jahre ist dabei sein bisher bemerkenswertestes Werk entstanden: „Mies“. Casas zeichnet in der Tradition der „Ligne Claire“ wie sie Georges Prosper Remi unter seinem Künstlernamen Hergé pflegte und in Serien wie „Tim und Struppi“ zu höchster Blüte brachte.

Casas: Mies. Ein visionärer Architekt

Casas: Mies. Ein visionärer Architekt

Casas’ Linien sind dem merklich verpflichtet, auch wenn sie mit deutlicheren Schattierungen daherkommen als die des belgischen Großmeisters: sie beschränken sich in der Personendarstellung gleichermaßen auf wenige prägnante Züge, klare Konturen und saubere Flächen. Gleichzeitig legen sie bei der Darstellung der Lebenswelten dieser Figuren eine beeindruckende Präzision an den Tag, die die Dinge des Alltags sofort erkennbar werden lassen. „Mies van der Rohe – ein visionärer Architekt“, so der lange und in Kombination mit dem Titel mit Dopplung versehene Untertitel der Graphic Novel, legt auf 165 Seiten das Leben eben dieses Ludwig Mies dar. Wie der Autor und Zeichner freimütig bekennt, ist dabei einiges „neu interpretiert“, anderes im Sinne einer Dramaturgie überhöht. Dennoch beruht alles, was hier in Szene gesetzt wird, auf Fakten, Anekdoten und historischen Quellen.

Casas: Mies. Ein visionärer Architekt

Casas: Mies. Ein visionärer Architekt

Wie aber zeigt man einen Mann, der derart hoch mit Preisen dekoriert und als einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste, Wegbereiter der Moderne tituliert wird? Casas entscheidet sich für eine sehr aktuelle Variante des Sowohl-als-auch: Verbeugung vor und rütteln am Denkmal in einem. Sein Mies sitzt gemeinsam mit dem Enkelsohn Dirk Lohan an Bord eines Transatlantikflugs der Pan Am nach Berlin. Die beiden sind unterwegs zur Grundsteinlegung der Neuen Nationalgalerie, Mies ist bereits von seiner Arthritis gezeichnet, Lohan schon ins Büro eingestiegen. Der Alte erzählt aus seinem Leben, der Junge lauscht und fragt hier und da nach. Dort, wo die Fragen zu kritisch werden, etwa wenn es um die Möglichkeit geht, für die Nazis zu bauen und Wettbewerbszeichnungen mit Hakenkreuzflaggen zu zieren, werden sie brüsk abgewiesen: „Du kannst mich mal, Dirk! Was weißt du schon, mit wem ich geliebäugelt habe!“

Casas: Mies. Ein visionärer Architekt

Casas: Mies. Ein visionärer Architekt

Casas’ Mies ist hier nah am echten, der stets betonte, mit Politik und politischer Gesinnung nichts zu tun zu haben und sich auf die bequeme Haltung zurückzog, nur ein Architekt zu sein, der eben bauen wolle und müsse. Casas schmückt diese verantwortungslose Haltung aus, indem er sie ins Private überträgt. Mies, der sich im nächsten Bild in der Lounge des Flugzeugs einen Martini bestellt, ist hier ein notorischer Trinker und Frauenheld, der den Spott über seinen Nachnamen leid ist und ihn deswegen aufhübscht. Affären, uneheliche Kinder, Ehen, Kinder, Ehebrüche, Liebschaften. Immer wieder sieht man den Held der Moderne hier vor seiner Verantwortung als Vater und Partner davonlaufen. Die Frauen, denen all das widerfährt, ebenso wie der Sparringpartner des – die Geschichte am Laufen haltenden – Gesprächs über den Wolken, Dirk Lohan, bleiben dabei merkwürdig konturlos. Zeichnerisch nicht: Casas hat ein Faible für markante Kinnpartien und volle Lippen. Aber etwas mehr Tiefe hätte man Frauen wie Ada Bruhn, Lilly Reich, Edith Farnsworth oder Lora Marx dann doch gewünscht.

Casas: Mies. Ein visionärer Architekt

Casas: Mies. Ein visionärer Architekt

Im Umgang mit den Bewohnern der Areale, die den Institutsneubauten in Chicago weichen müssen, kommt Mies hier ebenfalls nicht gut weg. Sie sind ihm schlicht egal. Die Architektur ist das, was zählt. Auch zwei Studierenden an seinem Berliner Bauhaus hilft er am Tag der Schließung durch die Nazis nicht bei der Flucht vor der Polizei, aus Sorge um die eigene Reputation und die der Institution. All diese Szenen sind mehr oder weniger belegt. Bei der verweigerten Hilfeleistung am Bauhaus aber fallen Schüsse, die es so nicht gab – die eingangs bereits erwähnte dramaturgische Überhöhung.

Casas: Mies. Ein visionärer Architekt

Casas: Mies. Ein visionärer Architekt

In gleichen Maße aber, in dem Agustín Ferrer Casas diesen Mies van der Rohe von seinem International-Style-Denkmalsockel herunterholt und seine Heldenverehrung Stück für Stück dekonstruiert, unterstreicht er dessen Virtuosität, macht deutlich, welche Grenzen dieser Architekt in seiner Zeit formal und räumlich überschritt und mit welcher Akribie er Ziele verfolgte und Projekte bearbeitete. Da Mies seine eigenen Heldentaten selbst besingen darf, fallen die Elogen entsprechend aus. Casas zeigt aber auch immer wieder Sequenzen, die Mies im Flieger seinem Enkel gegenüber unkommentiert lässt. In einer ansprechenden Überblendung dieser Gesprächsfrequenzen und der Rückschau folgt Casas Mies immer wieder in die Vergangenheit, ein nicht-linearer Erzählbogen ist das Ergebnis. Das macht Spaß beim Lesen, ist teilweise aufschlussreich und nicht zuletzt schön anzusehen. Denn vor allem auch die Architekturen in den Zeichnungen von Agustín Ferrer Casas sind wunderbar präzise. Wie er Mies in Gedanken die Friedrichstraße in Berlin herunter wandeln lässt, an deren Ende der legendäre Hochhausentwurf auf dreieckigem Grundriss emporragt, ist nicht nur tolles Comic, sondern auch große Kunst der Architekturdarstellung.

Casas: Mies. Ein visionärer Architekt

Casas: Mies. Ein visionärer Architekt

Alle wichtigen Bauten des Ludwig Mies van der Rohe werden so in Szene gesetzt. Von den Frühwerken Haus Riehl in Potsdam-Neubabelsberg (1907) und Haus Perls in Berlin (1911) über die nicht realisierten Entwürfe für das Berliner Hochhaus, oder den des Landhauses in Backstein, den Barcelona-Pavillon und die Häuser Lange und Esters (beide in Krefeld), Haus Tugendhat (Brno) und Lemke (Berlin), hin zu den Nachkriegsbauten in der „Neuen Welt“: Farnsworth House in Plano, die Campus-Bauten am IIT in Chicago, Seagram Building in New York und 2400 Lakeview Apartments in Chicago. Dazu kommen Zeitgenossen: Hilberseimer, Peterhans und Kandinsky, Frank Lloyd Wright, Peter Behrens oder der Immobilienentwickler Herbert Greenwald. Sie alle tauchen hier auf, die wenigsten sind jedoch in einer solchen Intensität gezeichnet wie die gockelhaften Auseinandersetzungen mit Walter Gropius oder die irrlichternden und stets wiederkehrenden Auftritte Philip Johnsons.

Casas: Mies. Ein visionärer Architekt

Casas: Mies. Ein visionärer Architekt

So ist diese Graphic Novel, die sich im Kern ja nicht in erster Linie an das Fachpublikum richtet, auch ein bemerkenswertes Lehrbuch für Architektur und ihre Vermittlung. Sie verdeutlicht einmal mehr die Kraft, die dieses Genre entfalten kann, wenn sich der Autor ebenso ernst nimmt wie seine Geschichte und die handelnden Personen. Agustín Ferrer Casas tut genau das: Er nimmt Ludwig Mies van der Rohe ernst, zeigt ihn mit all seinen Widersprüchen, und legt damit sein Scheitern ebenso offen wie seine Klasse.
David Kasparek

Agustín Ferrer Casas: Mies. Ein visionärer Architekt, 176 S., 20,– Euro, Carlsen Verlag, Hamburg 2019, ISBN 978-3-551-02294-3

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